Provenienzforschung und Mythologie. Jean Delville und das Orakel von Dodona

Das Gemälde Orakel von Dodone des belgischen Künstlers Jean Delville aus dem Jahre 1896 ist ein repräsentatives Werk des Symbolismus, das Aspekte der antiken Mythologie reflektiert. Durch Provenienzrecherchen konnte die Historie seiner Besitzerinnen und Besitzer-wechsel nachvollzogen werden.

Porträt von Jean Delville um 1910 © Sammlung Miriam Delville. In Jean Delville (1867-1953), Maître de l'idéal (Paris 2014)
Porträt von Jean Delville um 1910 © Sammlung Miriam Delville. In Jean Delville (1867-1953), Maître de l'idéal (Paris 2014)

Künstler und Theosoph

Jean Delville (1867 – 1953), der sich sowohl als Maler, als auch als Schriftsteller, Lehrer und Theosoph einen Namen machte, hatte an der Académie Royale des Beaux-Arts in Brüssel studiert, er gewann 1895 den Prix de Rome was ihm ein Stipendium in Rom ermöglichte. Ab 1900 übernahm er Lehrtätigkeiten an der Glasgow School of Art und später in der Académie Royale des Beaux-Arts in Brüssel. Delville, mit seiner klassisch akademischen Ausbildung, war inspiriert von den Präraffaeliten, der italienischen Renaissance und dem Symbolismus. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist sein Gemälde des griechischen Orakels in Dodona.

Gemälde Jean Delville, L’Oracle à Dodone
Jean Delville, L’Oracle à Dodone (1896)

Das Orakel von Dodona

Das während Delvilles Aufenthalts in Rom entstandene Gemälde, zeigt eine fast sphinxartig anmutende Priesterin des antiken Orakels von Dodona. Die Priesterin, mit maskulinen Zügen und dennoch weiblichen Körperformen, verkörpert ein androgynes Ideal. Im Gewand der Dargestellten wird Delvilles Leidenschaft für die Malerei der Renaissance deutlich. Neben ihrem nicht enden wollenden Schleier wird der Blick auf die goldenen Taubenflügel auf ihrem Kleid gelenkt, die ihre visionäre Rolle als Orakel ankündigen. Ihre geschlossenen Augen deuten auf den Orakelspruch hin, den sie gerade empfängt und auf noch unbeschriebenen Pergamentblättern festhalten wird. Die die Priesterin umgebende Landschaft entspricht nicht der Umgebung von Dodona, sondern ist vielmehr eine Interpretation des mythologischen Bildinhalts.

Das antike Orakel von Dodona gilt als das älteste Orakel Griechenlands und war nach Delphi das bedeutendste überregionale Orakel der griechischen Welt. Seine erste schriftliche Erwähnung findet die Kultstätte in Homers Ilias. Die Legende besagt, dass das Orakel aus dem Rauschen einer heiligen Eiche und dem Flug von Tauben weissagte. Dodona war dem Zeuskult gewidmet, und die Priesterinnen, allegorisch als Tauben interpretiert, waren für die Deutung der göttlichen Zeichen zuständig. Sie wurden als visionäre Trägerinnen geheimen Wissens betrachtet. Delville integriert viele diese mythologischen Elemente in sein Gemälde und verleiht der Priesterin eine zeitlose Aura des Mysteriösen und Transzendenten.

Seit 1875 fanden erste Ausgrabungen in Dodona statt, aber erst in den 1880er Jahren konnte durch Inschriftenfunde das Orakel identifiziert werden. Das hatte zur Folge, dass vermehrt darüber publiziert wurde, was das Interesse einiger Symbolisten wie Jean Delville weckte.

Zur Provenienz

Im Zusammenhang mit systematischen Provenienzrecherchen zur Jugendstilsammlung von Ferdinand Wolfgang Neess (1929 – 2020) am Museum Wiesbaden seit Oktober 2023, wurde das Orakel von Dodone von Jean Delville auf seine Provenienz hin untersucht, um einen NS-verfolgungsbedingten Entzug ausschließen zu können.

Die Grunddaten auf dem Gemäldes geben erste Hinweise über die Provenienz des Werks. Es ist in geschwungener Handschrift signiert und datiert von Jean Delville im Jahr 1896 in Rom. Auf der Rückseite konnten vereinzelte Aufkleber von Ausstellungen und Galerien vorgefunden werden.

Katalog des Cercle Artistique et Littéraire, Brüssel: „Exposition des Œuvres du peintre Jean Delville“ (1924)
Katalog des Cercle Artistique et Littéraire, Brüssel: „Exposition des Œuvres du peintre Jean Delville“ (1924) © Guèguen, Daniel: Jean Delville. La Contre-Histoire, Paris 2016.

Die erste Erwähnung des Gemäldes findet sich in einer Ausstellung im Herbst 1924. Es wurde unter dem Titel "A Dodone" mit der Nr. 22 in einer Ausstellung zu Delvilles Œuvre präsentiert, mit Verweis auf den Besitzer M. Max Wolfers. Doch wer war M. Max Wolfers? Ein Blick in die Genealogie enthüllt, dass Marc Max Wolfers (1859 – 1953) ein belgischer Fabrikbesitzer, Silberschmied und Bildhauer war. Als Sohn von Louis Wolfers, dem Gründer des Familienunternehmens "Wolfers Frères" in Brüssel, welches im 19. und 20. Jahrhundert in ganz Europa bekannt wurde, war er Teil einer wohlhabenden und angesehenen Familie. Er heiratete 1889 in Wiesbaden seine Wiesbadener Cousine Hedwig Wolfers. Die beiden hatten vier Kinder und lebten in Brüssel. Die Familie wurde während der NS-Zeit nach bisherigem Kenntnisstand nicht verfolgt. Eine zweite Erwähnung der Familie Wolfers als Besitzende des Gemäldes findet sich 1941/42 in einem von Jean Delville handschriftlich verfassten Werkverzeichnis. 

Ausschnitt der ersten Seite aus dem 1941/42 von Jean Delville verfassten Werkverzeichnis
Ausschnitt der ersten Seite aus dem 1941/42 von Jean Delville verfassten Werkverzeichnis © Guèguen, Daniel: Jean Delville. La Contre-Histoire, Paris 2016.

Dieses Werkverzeichnis liegt in maschinengeschriebener Version vor, vermutlich aus der gleichen Zeit wie das handschriftliche Manuskript, in Paul Otlets (1868 – 1944) Archiv des Weltwissens in Brüssel. Otlet gründete das Mundaneum, eine Institution, in der Millionen von Werken handschriftlich verzeichnet und nach Themengebieten geordnet waren, ähnlich einer analogen Suchmaschine.

Eine letzte Erwähnung des Gemäldes im Besitz der Familie Wolfers findet sich 1954 in einem von der Acadèmie Royale des Beaux-Arts de Belgique für ihr kürzlich verstorbenes Mitglied Jean Delville zu Ehren herausgegebenem Œuvre-Katalog. Damit kann ein NS-verfolgungsbedingter Entzug ausgeschlossen werden.

Es ist anzunehmen, dass das Gemälde im Besitz der Familie Wolfers verblieb, bis es schließlich im April 1970 in der Galerie L’Ecuyer in Brüssel zum Verkauf angeboten wurde. Die Familie Wolfers verkaufte in den 1970ern häufiger über die Galerie L’Ecuyer. Es ist bisher nicht bekannt, wer das Werk erwarb und im November 1970 auf die Ausstellung "Symbolist" in New York verlieh.

Drei Jahre später ist es in der Piccadilly Gallery in London nachweisbar, wo es 1973 von Sir Valentine Robert Duff Abdy (1937 – 2012) erworben wird. Nach seinem Umzug nach Frankreich verkaufte er es vermutlich in Paris.

Auktionskatalog: Rêves symbolistes im Hotel Georges-V in Paris
Auktionskatalog: Rêves symbolistes im Hotel Georges-V in Paris, 25 Juni 1975

Denn am 25. Juni 1975 tauchte das Gemälde im Auktionskatalog des Hôtel George V in Paris auf. Von Paris aus scheint das Gemälde in eine Privatsammlung in Brüssel gelangt zu sein, bevor es schließlich vom New Yorker Kunsthändler Barry Friedman im Jahr 1984 erworben wurde. Dort erwarb Ferdinand Wolfgang Neess das Werk im Jahr 1986. Neess schenkte das Gemälde 2017 dem Museum Wiesbaden, wo es heute Teil der Sammlung ist.

Larissa Engler

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