Das Orakel von Dodona
Das während Delvilles Aufenthalts in Rom entstandene Gemälde, zeigt eine fast sphinxartig anmutende Priesterin des antiken Orakels von Dodona. Die Priesterin, mit maskulinen Zügen und dennoch weiblichen Körperformen, verkörpert ein androgynes Ideal. Im Gewand der Dargestellten wird Delvilles Leidenschaft für die Malerei der Renaissance deutlich. Neben ihrem nicht enden wollenden Schleier wird der Blick auf die goldenen Taubenflügel auf ihrem Kleid gelenkt, die ihre visionäre Rolle als Orakel ankündigen. Ihre geschlossenen Augen deuten auf den Orakelspruch hin, den sie gerade empfängt und auf noch unbeschriebenen Pergamentblättern festhalten wird. Die die Priesterin umgebende Landschaft entspricht nicht der Umgebung von Dodona, sondern ist vielmehr eine Interpretation des mythologischen Bildinhalts.
Das antike Orakel von Dodona gilt als das älteste Orakel Griechenlands und war nach Delphi das bedeutendste überregionale Orakel der griechischen Welt. Seine erste schriftliche Erwähnung findet die Kultstätte in Homers Ilias. Die Legende besagt, dass das Orakel aus dem Rauschen einer heiligen Eiche und dem Flug von Tauben weissagte. Dodona war dem Zeuskult gewidmet, und die Priesterinnen, allegorisch als Tauben interpretiert, waren für die Deutung der göttlichen Zeichen zuständig. Sie wurden als visionäre Trägerinnen geheimen Wissens betrachtet. Delville integriert viele diese mythologischen Elemente in sein Gemälde und verleiht der Priesterin eine zeitlose Aura des Mysteriösen und Transzendenten.
Seit 1875 fanden erste Ausgrabungen in Dodona statt, aber erst in den 1880er Jahren konnte durch Inschriftenfunde das Orakel identifiziert werden. Das hatte zur Folge, dass vermehrt darüber publiziert wurde, was das Interesse einiger Symbolisten wie Jean Delville weckte.
Zur Provenienz
Im Zusammenhang mit systematischen Provenienzrecherchen zur Jugendstilsammlung von Ferdinand Wolfgang Neess (1929 – 2020) am Museum Wiesbaden seit Oktober 2023, wurde das Orakel von Dodone von Jean Delville auf seine Provenienz hin untersucht, um einen NS-verfolgungsbedingten Entzug ausschließen zu können.
Die Grunddaten auf dem Gemäldes geben erste Hinweise über die Provenienz des Werks. Es ist in geschwungener Handschrift signiert und datiert von Jean Delville im Jahr 1896 in Rom. Auf der Rückseite konnten vereinzelte Aufkleber von Ausstellungen und Galerien vorgefunden werden.