In einem Inventarbuch des Hessischen Landesmuseums Darmstadt findet sich mit Datum vom 26. Juli 1929 folgender Eintrag: „W. L. Schreiber, Der Buchholzschnitt im 15. Jahrhundert in Originalbeispielen. 55 Inkunabelproben mit Textheft. München 1929“ Angekauft wurde das Werk beim Münchener Antiquariat Weiss & Co. für 1200 RM. Aber wo war diese inzwischen nicht mehr auffindbare Publikation geblieben? War sie in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 beim verheerenden Luftangriff auf Darmstadt mitsamt der Museumsbibliothek verbrannt? Oder war sie an einem der Evakuierungsorte gestohlen worden? Das Besondere an dieser Publikation ist, dass hier originale Seiten aus gedruckten Büchern der Zeit um 1500 – Inkunabeln genannt – auf Kartons montiert und mit einem erklärenden Etikett versehen zusammengestellt worden sind. Die Auflage betrug nur 100 nummerierte Exemplare, davon 50 in Deutsch und 50 in Englisch. Um festzustellen, ob nicht einige der ohne Provenienznachweise in der Sammlung des HLMD befindlichen Inkunabelblätter aus dieser Publikation stammen könnten, musste ein anderes, vollständiges Exemplar mit Textheft gesucht werden. In der UB Heidelberg konnte eines entdeckt und zur Rekonstruktion des Darmstädter Exemplars herangezogen werden. Es ist als Digitalisat zugänglich auf der Webseite der Universitätsbibliothek HeidelbergÖffnet sich in einem neuen Fenster.
Für den Abgleich war es Voraussetzung, die Titel der Bücher zu kennen, denen 1929 die Einzelblätter entnommen worden waren. In jedem der insgesamt 100 Exemplare befindet sich jeweils ein anderes Blatt aus der genannten Inkunabel. Es stellte sich zunächst heraus, dass von 55 Blättern 48 noch vorhanden waren. Sie waren bei der Evakuierung während des 2. Weltkrieges von ihren Kartons abgelöst nach 1945 mit fortlaufenden Nummern neu inventarisiert worden. Mit Hilfe der Museumsdatenbank konnten die restlichen sieben Blätter auch noch gefunden werden. Durch die später erfolgte Änderung der Inventarnummern dieser Blätter war der ursprüngliche Zusammenhang in Vergessenheit geraten. Die Provenienz von 55 Blättern ist nunmehr geklärt. Wegen des Erwerbungsjahres 1929 kann ein NS-verfolgungsbedingter Entzug ausgeschlossen werden. Doch warum zerschnitt man im Antiquariat Weiss damals Dutzende von historischen Büchern und ließ vom anerkannten Inkunabelexperten Wilhelm Ludwig Schreiber ein Begleitheft verfassen? Diese Zerstückelung von Originalen ist aus heutiger Sicht ein völlig inakzeptables Vorgehen. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass beschädigte und unvollständige Inkunabeln auf diese Weise verwertet werden sollten. Offenbar waren diese unverkäuflich und konnten – zerschnitten, ansprechend auf Kartons montiert und in einer leinenbespannten Kassette verwahrt – dennoch in den Handel gegeben werden. Die Ausgabe in Englisch deutet auf die Ansprache eines internationalen Forscher- und Sammlerpublikums hin. Beispielsweise konnten bei einer einfachen Internet-Recherche zwei Exemplare in wissenschaftlichen Bibliotheken in den USA nachgewiesen werden.
Udo Felbinger